Soziale Gerechtigkeit in Anjou im elften Jahrhundert

Michael Hohlstein - Henk Teunis, The appeal to the original status. Social justice in Anjou in the eleventh century. Middeleeuwse Studies en Bronnen, XCI (Hilversum: Verloren 2006) 224 p. ISBN 90-6550-904-6 €20,00

Der Gedanke, dass Gerechtigkeit die Grundtugend menschlicher Vergemeinschaftung ist, lässt sich bis in die antike Moralphilosophie zurückverfolgen. Mittelalterliche Autoren begriffen iustitia als einigendes Band der menschlichen Gesellschaft.

In der Moderne ist mit der Realisierung von Gerechtigkeit die Vorstellung von der Existenz distinktiver, kodifizierter, positiver rechtlicher Normen verbunden, die für das Urteil in unabhängigen rechtlichen Verfahren bindend sind. Die rechtliche Praxis im Anjou des 11. Jahrhunderts unterscheidet sich von der modernen Rechtssprechung grundlegend. In The appeal to the original status. Social justice in Anjou in the eleventh century schliesst Henk Teunis an jüngere Forschungsergebnisse an, die der langlebigen Vorstellung von der gewöhnlich mit dem Begriff ’Feudalgesellschaft’ bezeichneten Verfasstheit menschlichen Zusammenlebens als ungezügelte, rechtlose Anarchie, in der die Lösung von Konfliktfällen die bestehende soziale Ungleichheit spiegelt, widersprachen.

Obschon die sozialen Beziehungen jener Zeit in einem hohen Mass von der ungleichen Verteilung von Macht und Einkommen geprägt waren, nutzten Potentaten nicht einfach ihre überlegene Position aus, um Konflikte zu ihren Gunsten zu entscheiden. Es lässt sich nachweisen, dass die rechtliche Praxis im Kern nicht auf die strenge Sanktionierung unrechtmässiger Handlungen zielte. Warum dies so war und von welchen Intentionen sich die handelnden Personen leiten liessen, versucht Henk Teunis in sieben Kapiteln zu beantworten, die je eigene inhaltliche Schwerpunkte setzen, aber auch chronologisch durch die Entwicklungen im Anjou des 11. Jahrhunderts führen. Der Autor demonstriert detail- und kenntnisreich eine Rechtspraxis, die statt auf Sanktion auf Aussöhnung ausgerichtet war, in der es darum ging, den vor der Rechtsverletzung bestehenden, ’ursprünglichen’ Status sozialer Beziehungen wiederherzustellen. Es ging in der Konfliktlösung nicht so sehr um Strafe, sondern um einen Ausgleich, in dem über die gegenseitige Anerkennung und zeremoniell sichtbar gemachter persönlicher Standespositionen und Rechtsansprüche der vor dem Konfliktfall bestehende gesellschaftliche ’status quo ante’ (S. 12) erneuert wurde. Die gesellschaftliche Relevanz einer solchen rechtlichen Praxis zeigt sich, indem sie als strategisches Mittel zur Anwendung kam, wenn es um die erneute, öffentlich demonstrierte Anerkennung von Herrschaftsverhältnissen in Fällen von Herrschaftsnachfolge ging oder um die Anerkennung neuer Herrschafts- und Standespositionen (Kap. 2; 5). Die bindende Kraft des Verfahrens bestimmte auch Fälle, in denen der Standesunterschied und die ungleichen Herrschaftsverhältnisse offensichtlich waren. Herrscher beharrten nicht kompromisslos auf die Durchführung eines Richterspruchs, um widerrechtliches Handeln von Untergebenen zu strafen. Das Verfahren endete nicht mit dem richterlichen Urteil; mittels Fürsprache und Gnadengewährung blieb der Weg offen zur inszenierten und in Teilen rituell verfestigten Rückkehr zum status quo ante. Dies galt auch andersherum. Abhängige konnten erwarten, dass auch in Fällen, in denen ihre Rechte von Potentaten verletzt worden waren, der versöhnende Ausgleich und die gegenseitige Anerkennung am Ende des Konflikts standen (Kap. 3). Mit der Abnahme der Zentralgewalt der Herzöge von Anjou nach 1060 wurde die Lage komplizierter. Dennoch verschwand das oben beschriebene Modell der Konfliktlösung nicht, wenngleich die materiellen Kosten vor allem für kirchliche Institutionen grösser wurden, die sich gegen die gewaltsame Verletzung ihrer Position beharrlich und mit Eidesleistung, der Anrufung von Gottesurteil oder gar der Androhung von Duellen erfolgreich zur Wehr setzten (Kap. 4; Appendix). Als die Herzöge von Anjou nach 1060 zunehmend die Kontrolle über ihre Vasallen verloren, waren Klöster und Kirchen zweifelsfrei in ihren Rechten stärker bedroht als zuvor. Es gelang ihnen aber weiterhin Konflikte über Versöhnung und Ausgleich zu lösen. Rückhalt fanden sie dabei in den Bischöfen. Diese übernahmen - anders als in der einschlägigen Forschung bisher betont - nicht richterliche Gewalt von den Herzögen. Legitimation als Vermittler und Schiedsrichter leiteten Bischöfe aus ihrem Amtsverständnis ab, Klöster und Kirchen, die im spirituellen Kontext des 11. Jahrhunderts zunehmend als heilige Plätze begriffen wurden, gegen Übergriffe zu schützen (Kap. 6).

Kritisieren lässt sich an der Studie von Henk Teunis - sieht man einmal von einer gewissen Redundanz ab, die sich wohl daraus ergibt, dass zuvor schon einzelne Passagen andernorts publiziert worden sind (Kap. 2-5) - nur ein, allerdings bedeutender Aspekt: die Erklärung für die rechtliche Praxis im Anjou des 11. Jahrhunderts angesichts des kurzen, an einigen wenigen Beispielen illustrierten Hinweis auf ihren Wandel im frühen 12. Jahrhundert. Die Formen der gegenseitigen Anerkennung des 11. Jahrhunderts versucht Teunis mit Verweisen auf rechtsanthropologische Einsichten zu erklären. Demnach verträgt eine wenig differenzierte, auf persönliche Bindungen angewiesene Gesellschaft kein strenges Recht, das letztlich auf Sanktion des Rechtsbruchs zielt und damit die Exklusion des Rechtsbrechers forciert (S.50). Diese Erklärung könnte nur dann überzeugen, wenn es Teunis unternehmen würde, die Veränderungen der Rechtspraxis, wie er sie für das beginnende 12. Jahrhundert andeutet, mit einer zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft zu verbinden. Dies bleibt Teunis schuldig.